Wählen ohne Barrieren: Die Stadt Trier macht es vor

Trier · 20 Prozent der Wahllokale in Rheinland-Pfalz sind nicht barrierefrei. In Trier liegt die Quote ab sofort bei null. Eine Offensive mit Folgen für alle Veranstaltungen der Stadt.

 So geht das: Mit mobilen Rampen macht die Stadt Trier das Wahllokal in der Grundschule Irsch barrierefrei. Von links: Maylin Müllers, Leiterin des Wahlamtes, Adelheid Steffens vom Wahlamt, der Behindertenbeauftragte Gerd Dahm, Jan Hoffmann von der TTM und OB Wolfram Leibe. TV-Foto: Friedemann Vetter

So geht das: Mit mobilen Rampen macht die Stadt Trier das Wahllokal in der Grundschule Irsch barrierefrei. Von links: Maylin Müllers, Leiterin des Wahlamtes, Adelheid Steffens vom Wahlamt, der Behindertenbeauftragte Gerd Dahm, Jan Hoffmann von der TTM und OB Wolfram Leibe. TV-Foto: Friedemann Vetter

Foto: Friedemann Vetter (ClickMe)

Die Grundschule im Stadtteil Irsch ist eine typische Vertreterin ihrer Art. Ein Funktionsbau, errichtet in den frühen 60er Jahren, schnörkellos erdacht, um Generationen von Kindern aufnehmen zu können. Wer die Schule durch den Haupteingang betreten will, muss zwei jeweils 15 Zentimeter hohe Stufen überwinden. Ein Mensch mit gesunden Beinen tut das, ohne das kleine Hindernis überhaupt bewusst wahrzunehmen. Für einen Rollstuhlfahrer ist das jedoch ohne massive Hilfe unmöglich.

Gerd Dahm steht vor dem Eingang und blickt sinnierend auf die beiden Stufen. "Warum hat man das damals so gemacht?", sagt der Behindertenbeauftragte der Stadt Trier und richtet diese Frage an niemand bestimmten. "Es wäre doch so einfach gewesen."

Dahm kennt die Antworten auf diese Fragen natürlich längst. Barrierefreiheit und Inklusion waren in den Geburtsstunden der Irscher Schule - und zahlloser anderer öffentlicher Gebäude - wahrhaftig keine beherrschenden Themen.

Heute ist die vollständige Einbeziehung gesundheitlich benachteiligter Menschen in alle Teile und Aspekte der Gesellschaft ein zentrales Ziel, dem die Stadt Trier im Vorfeld der Bundestagswahl am Sonntag, 24. September, einen großen Schritt näher gekommen ist. Alle 72 Wahllokale im Trierer Stadtgebiet werden am Tag dieser Wahl barrierefrei sein.

Dahm ist ein Teil dieser Offensive, ebenso wie Oberbürgermeister Wolfram Leibe (SPD) und Maylin Müllers, die neue Leiterin des Trierer Wahlamts. Müllers und ihr Team haben alle Trierer Wahllokale besucht. 18 davon waren nicht barrierefrei.

"Wir haben uns ganz einfach gesagt, wir ändern das und fangen jetzt an", sagt Triers OB Leibe, der am 24. September der Wahlleiter für die Stadt Trier und auch den Kreis Trier-Saarburg sein wird. Da zusätzlich zu den 18 nicht barrierefreien Lokalen drei weitere wegen Sanierungen nicht zur Verfügung stehen, musste die Stadt Trier für 21 Räume neue Lösungen finden. Das tat sie. Sieben der alten Lokale wurden ganz einfach gestrichen. Leibe erklärt: "Wir haben dafür sieben neue barrierefreie Räume gefunden, die wir als Wahllokale nutzen können." In drei weiteren der alten Räume hat die Gebäudewirtschaft Trier Hand angelegt und die Barrierefreiheit hergestellt. Für den Rest hat die Trier Tourismus und Marketing GmbH (TTM) mobile Rampen angeschafft. Auch für die Grundschule Irsch. Ein simpel scheinender Kniff, aber er wirkt.

Gerd Dahm stimmt zu. "Es ist ein Problem in der Debatte um Inklusion, dass oft immer gleich das Optimum gefordert wird", sagt der Behindertenbeauftragte, der lange für die Grünen im Stadtrat gesessen hat. "Aber es muss nicht immer sofort der Einbau eines Aufzugs sein. Es läuft besser, wenn man Zug um Zug vorgeht."

Die Beseitigung der Barrieren in den Wahllokalen ist eine konkrete Umsetzung des vom Stadtrat verabschiedeten Inklusionsplans. "Trier ist damit Vorreiter in Rheinland-Pfalz", betont Leibe. "Landesweit sind 20 Prozent aller Wahllokale nicht barrierefrei."

Die mobilen Rampen sollen in Zukunft für alle städtischen Veranstaltungen genutzt werden. Ein klares Signal, dass die Stadt aus dem City Campus 2016 gelernt hat. Damals waren einige Ausstellungen für Rollstuhlfahrer nicht erreichbar.

Szenenwechsel: Der Kreis Trier-Saarburg hat nicht 72, sondern 185 Wahlbezirke. Eine präzise Analyse, wieviele davon barrierefrei sind, sei mit einem hohen Aufwand verbunden, sagt Kreis-Sprecher Thomas Müller. "Aber es ist die Mehrheit, überwiegend sind die Wahllokale barrierefrei."

OB Leibe will Kontakt mit Landrat Günther Schartz (CDU) aufnehmen. "Ich werde den Kreis anschreiben und anregen, unserem Beispiel zu folgen."

Christoph Emmerling ist der Behindertenbeauftragte des Landkreises. "Ich kann mich auch mit individuellen Lösungen anfreunden." Als Beispiel nennt der Professor der Bodenkunde eine Anekdote aus der Verbandsgemeinde Ruwer: "Dort hat der zuständige Wahlleiter die bewachte Wahlurne kurzerhand aus dem ersten Stock ins Erdgeschoss bringen lassen."MeinungPlötzlich sind die Bretter doch nicht mehr so dick

Dein Wahllokal ist nicht barrierefrei? Na, dann mach doch einfach Briefwahl. Sätze wie dieser sind mit Sicherheit nicht grundsätzlich böse gemeint, aber sie zeigen immer wieder, wie dick die noch zu bohrenden Bretter sind. Es geht bei der Inklusion nicht um Alternativen, ein Hintertürchen oder einem Plan B.

Ebenso wie ein völlig gesunder Wähler soll sich ein Seh-, Geh- oder Hörbehinderter frei entscheiden können, ob er von der Briefwahl Gebrauch macht oder sein Wahlllokal persönlich aufsucht. Es gibt Gründe für eine Briefwahl, manchmal auch zwingende. Eine Behinderung ist keiner davon. Die Trierer Lösung ist vor allem deshalb so gut, weil sie die einzige wirklich unüberwindliche Barriere - die katastrophale Haushaltslage der Stadt - geschickt umgeht. Mobile Rampen sind eine simple Lösung und auch eine günstige. Diese Lösung funktioniert und beweist: Wenn Inklusion in den Köpfen angekommen ist, sind die Bretter, die man bohren muss, plötzlich doch nicht mehr so dick. j.pistorius@volksfreund.deExtra

Im Sommer 2016 einstimmig beschlossen

Der Stadtrat hat im Sommer 2016 einstimmig den Inklusionsplan verabschiedet. Oberbürgermeister Wolfram Leibe hat das Thema Inklusion als Chefsache von seinem Vorgänger Klaus Jensen (SPD) übernommen. Seitdem stehen alle Ämter im Rathaus in der Pflicht, bei ihren Projekten an die Belange beeinträchtigter Menschen zu denken und zu klären, wie man ohne Beine, Gehör oder Sehkraft Behörden aufsuchen oder an Veranstaltungen teilnehmen kann.

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