Aufgeschlagen – neue Bücher: „Verwirrnis“ Von der Unmoral in der Moral

Als Chronist der DDR wird er gern bezeichnet. Dabei ist Christoph Hein viel mehr als das. Er ist ebenso ein genauer Beobachter von Doppelmoral, Scheinheiligkeit, Feigheit und patriarchalischen Herrschaftsverhältnissen der deutsch-deutschen Gegenwart und jüngsten Geschichte.

Von der Unmoral in der Moral
Foto: TV/Suhrkamp

Nicht zuletzt ist der 1944 geborene Autor ein scharfsichtiger Analytiker jener Unmoral, die häufig in der Selbstgerechtigkeit und Unerbittlichkeit gesellschaftlich verordneter Moral und Tugendhaftigkeit steckt. Dabei bleibt er leise und zugewandt. So auch in seinem neuen Roman „Verwirrnis“.

Nach bestehender Norm verwirrt sind in der DDR der Vorwendezeit Friedeward Ringeling, der Sohn eines aufrechten,  aber stockkonservativen Gymnasiallehrers und der Kantorsohn Wolfgang Zernick.  Die beiden Schulfreunde verlieben sich ineinander. In den gemeinsamen Ferien an der Ostsee kommt es zum „Coming out“. Für die beiden Freunde beginnt eine bittere Zeit des Versteckspiels und der Bedrohung. Als sie zum Studium nach Leipzig wechseln,  lernen sie das lesbische Paar Herlinde und Jacqueline kennen. Mit Jacqueline geht der inzwischen wissenschaftlich erfolgreiche Friedeward eine Scheinehe ein, damit die beiden Paare ihre Liebe leben können. Auch nach der Abschaffung des sogenannten Schwulenparagrafen 175, der Homosexualität unter Strafe stellt ( in der DDR 1968, in der BRD 1994)  müssen die vier Freunde erkennen, dass die gesellschaftlichen Tabus weiterbestehen. Der musikalisch hochbegabte Wolfgang geht in den Westen, wo er mit ebensolchen Vorurteilen zu kämpfen hat, wie im Osten. Friedeward bleibt in Leipzig, wird ein international renommierter, aber einsamer Germanistikprofessor, bis ihn nach der Wiedervereinigung seine Stasi-Akte einholt. Einmal mehr ist Christoph Hein ein berührendes Buch gelungen, das differenziert und ohne plakative Wahrheiten die Frage nach Schuld, Abhängigkeit und Verstrickung als Folge privater und gesellschaftlicher Verhältnisse stellt. Unbedingt lesenswert.

Eva-Maria Reuther

Christoph Hein „Verwirrnis“, Suhrkamp, ISBN 978-3-518-42822-1

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