Meisternovelle, Kritikertod und Altherrenerotik

Er ist der letzte verbliebene große Schriftsteller aus den 1920er Jahren. Sein Name steht in einer Reihe mit Lenz und Grass, die 2014/2015 gestorben sind. Martin Walser wird am 24. März 90 Jahre alt. Noch im Januar hat er ein neues Buch vorgelegt. Eine vorläufige Bilanz eines Autorenlebens, das Höhe-, aber auch Tiefpunkte aufzuweisen hat.

Meisternovelle, Kritikertod und Altherrenerotik
Foto: Felix Kästle (g_kultur

Vita: Den größten Teil seines Lebens verbringt Walser am Bodensee. Geboren 1927 und aufgewachsen in Wasserburg, wohnt er seit Jahrzehnten in (Überlingen-) Nussdorf - lebt also am Rande der Kulturmetropolen, Handelszentren und industriellen Ballungsgebiete Deutschlands. Doch seine literarischen Werke seit den 50er Jahren sind stets realistische Beobachtungen aktueller menschlicher und gesellschaftspolitischer Verhältnisse.
Der Vater von vier Töchtern, die alle selbst als Autorinnen, Malerinnen und Schauspielerinnen künstlerisch tätig sind, sowie des Journalisten Jakob Augstein, wie dieser 2009 bekanntgab, promoviert Ende der 40er mit einer Arbeit über Franz Kafka, wird seit 1953 zu den Tagungen der Gruppe 47 eingeladen und erhält 1955 den Literaturpreis der Gruppe für seine Erzählung "Templones Ende". Im selben Jahr erscheint der Erzählungsband "Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten". Walser ist in dieser Zeit Mitarbeiter beim Süddeutschen Rundfunk (SDR) im Ressort "Politik und Zeitgeschehen". Sein erster Roman "Ehen in Philippsburg" wird 1957 veröffentlicht - da ist der Autor gerade 30 geworden; sein erstes Theaterstück "Der Abstecher" liegt 1961 gedruckt vor und wird an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. Es folgen bis heute rund 33 Romane sowie Erzählungen, Stücke, Hörspiele, Essays und drei umfangreiche Bände Tagebücher.
Thema ist immer wieder das Scheitern der Figuren am Leben. Sie sind den Anforderungen, die ihre Mitmenschen oder sie selbst an sich stellen, nicht gewachsen und fechten einen inneren Konflikt aus, haben "Seelenarbeit" (so 1979 ein Romantitel) zu leisten. Hoch gelobt wird 1978 die Novelle "Ein fliehendes Pferd", die gar zwei Mal verfilmt wird. In den 70ern und 80ern weilt Walser häufig als Gastdozent an US-amerikanischen Universitäten.

Antisemitismus-Debatte:
1998 steht er dann zum ersten Mal ungewollt im Zwielicht der Öffentlichkeit: Anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hält Walser am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche eine Rede, in der er eine "Instrumentalisierung des Holocausts" kritisiert. Seine sprachlich komplizierten Äußerungen werden zumeist folgendermaßen gedeutet: Walser fühle sich durch die Nazi-Verbrechen tief berührt. Die stetige Wiederholung der Darstellungen banalisiere jedoch sein persönliches Empfinden für die Ausmaße dieser Verbrechen. Daher wolle er die "gebetsmühlenartig" wiederholte "Aufarbeitung" trauriger deutscher Geschichte nicht vorantreiben.
In der darauf folgenden, hitzig geführten Debatte halten seine Kritiker, etwa Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Martin Walser vor, er ebne den Weg für eine Bagatellisierung oder gar Leugnung der Nazi-Verbrechen. Zudem wird ihm vorgeworfen, rechte Revisionisten, die dieses brisante Thema verschweigen wollten, könnten sich auf ihn berufen. Walser entgegnet seinen Kritikern, er beabsichtige keine politische Instrumentalisierung seiner "sehr persönlichen Ansicht" und habe nur von seinem "subjektiven Empfinden" gesprochen.
Im Jahr 1998 erscheint dann der Roman "Ein springender Brunnen", in dem sich Walser an seine Jugend im Nationalsozialismus erinnert. Das Buch wird von Deutschlands bekanntestem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki heftig kritisiert. 2002 publiziert Walser den Roman "Tod eines Kritikers". Reich-Ranicki kommt offiziell darin nicht vor, aber in Deutschland ist man sich einig, dass mit André Ehrl-König nur "MRR" gemeint sein kann. Der damalige FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher lehnt den Vorabdruck des Romans ab, bezichtigt Walser des Antisemitismus. Dieser wechselt nach dem Tod von Suhrkamp-Herausgeber Siegfried Unseld 2004 den Verlag und veröffentlicht bei Rowohlt.

Walser und die Frauen:
Es gilt als weithin bekannt, dass Walser während seines gesamten Lebens den Frauen sehr zugeneigt ist. Doch seit dem Roman "Angstblüte" aus dem Jahr 2006 nimmt die Darstellung des Sexuellen und Erotischen in seinen Werken eine bis dahin nicht wahrzunehmende neue Dimension an. Einflussreiche Kritiker sprechen geradewegs von "Greisensex" oder auch von "schamloser Altherrenerotik" (so Rezensionen etwa von Tilman Krause oder Burkhard Müller). Das Phänomen setzt sich fort in weiteren Werken wie "Ein liebender Mann" (2008) über den alten Goethe und seine Geliebte Ulrike von Levetzow, wo Walser vorgeworfen wird, "den Dichterfürsten vom Sockel zu stoßen", bis hin zu "Ein sterbender Mann" von 2016, in dem E-Mails dominieren und Suizid-Foren eine große Rolle spielen.
Und hier kommt erstmals Thekla Chabbi ins Spiel: Die Münchner Sinologin, Exfrau von Schlagersänger Guildo Horn und laut eigener Homepage zuständig für "Interkulturelle Beratung und Coaching", wird von Walser in "Ein sterbender Mann" mit einer Widmung bedacht: "Der Autor ist Thekla Chabbi für ihre Mitarbeit an diesem Roman zu großem Dank verpflichtet. Ohne ihre schöpferische Mitwirkung wäre der Roman nicht, was er ist." Als Koautorin nennt er sie nicht, obwohl sie - wie später öffentlich wird - ganze Kapitel geschrieben hat. Bei Lesereisen saß sie mit Walser gemeinsam auf dem Podium und war gleichberechtigte Interviewpartnerin. Ganz aktuell gibt sie Walsers Essayband "Ewig aktuell. Aus gegebenem Anlass" heraus, der am 24. März 2017 erscheinen wird (siehe Info). Ähnlich wie Chabbi erging es nur zwei Jahre zuvor der in Boston lehrenden Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein, die mit ihren umfangreichen Fachveröffentlichungen Walsers Interesse für den jiddischen Autor Sholem Yankev Abramovitsh weckte. Der Schriftsteller vom Bodensee publizierte daraufhin seinen Essay "Shmekendike blumen". Klingenstein geht nach Walsers Veröffentlichung mit ihm auf Lesetour und drückt anschließend in ihrem Buch "Wege mit Martin Walser" ihre Enttäuschung und ihr Missfallen über sein Handeln aus. Wie sich doch die beiden Fälle gleichen!

Neuestes Werk:
Bleibt noch, auf Walsers aktuellstes Buch "Statt etwas oder Der letzte Rank" einzugehen, das der Autor mit beinahe 90 Jahren im Januar dieses Jahres veröffentlicht hat. Offiziell firmiert dies Werk zwar als Roman, doch es handelt sich vielmehr um eine lose zusammengefügte Sammlung von Gedankenpassagen und Epigrammen wie auch schon die vor mehreren Jahren erschienenen drei "Meßmer"-Bücher, die jetzt zu Walsers Geburtstag in einem "Meßmer" betitelten Band gemeinsam veröffentlicht werden (siehe Info). Ein immer wiederkehrender Satz des Ich-Erzählers lautet "Es geht mir ein bisschen zu gut." In 52 namenlosen Kapiteln wohl in Anlehnung an die jährliche Wochenzahl - mal drei Zeilen, mal über zehn Seiten lang - werden seine Mitmenschen ("Freunde sind Phantasie") in Gegner und Feinde unterteilt - hervorgehoben werden vor allem Kritiker und Frauen (siehe jeweils oben).
Überhaupt Frauen: Auch das neue Werk Walsers strotzt vor sexuellen Anspielungen. Zu hoffen bleibt, dass es nicht sein letztes bleiben wird. Denn es reicht von der Qualität her bei weitem nicht an seine Meisterwerke wie die Novelle "Ein fliehendes Pferd" aus dem Jahr 1978 heran. Zum Abschluss noch einige Bemerkungen zum Titel des Buches: "Rank" ist der altdeutsche Singular zum Plural "die Ränke". also - wie Walser auf dem Vorblatt erklärt - nach dem Grimm'schen Wörterbuch "die wendung, die der verfolgte nimmt, um dem verfolger zu entgehen".

Apropos Rank bzw. Ranking: Cicero, ein Magazin für politische Kultur, ermittelt bereits seit Jahren eine Liste der 500 wichtigsten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Martin Walser führt erstmals das aktuelle Ranking vom Dezember 2016 für das Jahr 2017 an noch vor Peter Sloterdijk und Peter Handke.MARTIN WALSER IN DER REGION


Extra

In der Region Trier war Walser bisher häufig bei Lesungen anzutreffen, so quasi als Stammgast beim Eifel-Literatur-Festival oder bei der Literaturreihe im Echternacher Kulturzentrum Trifolion (Luxemburg). Neue Walser-Ausgaben: Martin Walser, Ewig aktuell. Aus gegebenem Anlass. Hrsg. von Thekla Chabbi, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017. Meßmer. Gedanken. Reisen. Momente, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017. Ein liebender Mann / Ein sterbender Mann. Zwei Romane, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017. Erscheinungstermin aller drei Bände: 24. März

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