"Es gibt so etwas wie das radikal Böse"

Die Stefan-Andres-Preisträgerin Gila Lustiger im Gespräch über Terror, Medien und Schuld.

 Ihr Vorname bedeutet Freude. Die versprühte sie auch bei der Preisverleihung in Schweich. TV-Foto: Katharina Hahn

Ihr Vorname bedeutet Freude. Die versprühte sie auch bei der Preisverleihung in Schweich. TV-Foto: Katharina Hahn

Foto: (g_kultur

Den elften Stefan-Andres-Preis erhält die in Paris lebende Schriftstellerin Gila Lustiger. Der von der Stadt Schweich verliehene Preis für deutsche Literatur ist mit 5000 Euro dotiert. Die Jury begründete ihre Entscheidung mit Lustigers "vorurteilsfreiem" Blick auf die gesellschaftliche Situation in Frankreich in ihrem Roman "Die Schuld der anderen" und in ihrem Essay "Erschütterung", der unter dem Eindruck der Pariser Terroranschläge entstand.

In Ihrem Essay "Erschütterung" setzen Sie sich mit dem Terror auseinander. Sie selbst haben in Paris Terroranschläge aus nächster Nähe erlebt. Fühlen Sie sich verunsichert?
Gila Lustiger: Verunsichert vielleicht nicht, aber natürlich beschäftigt mich die Frage, was es in einem selbst bewirkt, wenn Orte, die zu unserm Alltag gehören und in einer Zivilgesellschaft öffentliche Räume sind wie ein Konzertsaal, eine Straße, ein Weihnachtsmarkt zu Tatorten werden und Alltagsgegenstände, wie etwa ein LKW, zu Tatwaffen. Terror verursacht, dass man seinen vertrauten Alltag zu hinterfragen beginnt. Und dieses ewige Auslotenmüssen, dieses skeptische Beäugen wiederrum, verursacht eine tiefbleibende Verunsicherung. Ich selbst habe sie für mich überwunden, indem ich mich an den Schreibtisch gesetzt und meinen Essay "Erschütterung" geschrieben habe. Ich war in eine Art Schockstarre geraten und tat nichts anderes mehr, als mir den ganzen Tag die Live-Ticker einzuverleiben.

Wie beurteilen Sie in so einer Situation die Funktion der Medien?
Lustiger: Es ist ein menschliches Bedürfnis, informiert zu werden. Und das ist ja auch die Aufgabe der Medien. Das Problem ist die Beschleunigung. Sie bekommen im Live-Ticker alle fünf Minuten neue Informationen ausgespuckt. Es ergeben sich aber nicht wirklich alle fünf Minuten neue profunde Informationen. Bei so einem Attentat wie in Frankreich, wo die ganze Weltpresse zugegen ist, zitiert sich die Presse dann ständig gegenseitig. Das ist aber nicht die Schuld der Medien. Die machen ihren Job. Das ist das Leben im Zeitalter der Beschleunigung.
Die Ursachen und Hintergründe gesellschaftlicher Fehlentwicklungen beschäftigen Sie ja schon lange. In Ihrem Roman "Die Schuld der anderen" wird Schuld zur kollektiven gesellschaftlichen Verstrickung. Gilt das nach Ihrer Ansicht auch für die Attentäter der Terroranschläge?
Lustiger: Ich zitiere in meinem Buch Walter Benjamin, der sagt, dass es heute keine tragischen Helden mehr gibt. Benjamin stellt das für das 20. Jahrhundert fest. Aber das gilt auch für das 21. Jahrhundert. Heute gibt es eigentlich nur noch tragische Konstellationen. Das verdeutliche ich in der "Schuld der anderen". Da geht es um Arbeiter, die mit einem giftigen chemischen Stoff arbeiten müssen und um einen politischen und wirtschaftlichen Skandal.

Die Welt Ihrer Bücher ist düster. Sie selbst sind in einer Umgebung von Holocaust-Überlebenden aufgewachsen. Wie weit hat das Ihr Weltverständnis von klein auf geprägt?
Lustiger: In meinem näheren Umfeld, also meiner Familie, wurde über die Shoa nicht gesprochen. Aber ich habe sehr früh begriffen, dass es hinter dieser ruhigen gutbürgerlichen Fassade noch eine Realität gibt, die verschwiegen wurde. Das Gefühl, das hinter dieser augenscheinlichen Wirklichkeit noch eine andere sein kann, und mein Bedürfnis, hinter die Kulissen zu schauen, beruht auf meiner Kindheitserfahrung. Ich glaube, der Zweifel und mein Bedürfnis, das zu hinterfragen, was ich sehe, ist biografisch bedingt. Wenn ich meine Bücher anschaue, dann erkenne ich im Rückblick ein Thema, das mich umtreibt: das radikal Böse. Ich glaube, wie Kant und Hanna Arendt, dass ein Hang zum Bösen in der menschlichen Natur verwurzelt ist. So wie es natürlich auch eine Anlage zum Guten gibt, beide sind Möglichkeit. Für Hannah Arendt ist das radikal Böse das, was nicht hätte passieren dürfen, womit man sich nicht versöhnen kann. Sie denkt natürlich an die Shoa. Und sie sagt auch, dass jenes radikal Böse sich an seinen historisch-moralischen Folgen zeigt, an den Nachwellen, den Splittern. Es gibt Zeiten und Orte, politische Umstände, soziale, historische und ökonomische Konstellationen, die eben jenes vorbringen, was wir das radikal Böse nennen: die Shoa, Völkermorde, Kriege. Die Shoa fing nicht mit der industriellen Massenvernichtung der Juden an, nicht einmal mit dem Judenstern, sondern mit Ausrufen wie "die Juden sind unser Unglück", mit antisemitischen Klischees und Weltbildern, die man heute, ganz nebenbei bemerkt, ungebrochen in einem radikalen Islamismus wiederfindet. Die antisemitische Fälschung "Die Protokolle der Weisen von Zion" wie auch "Mein Kampf" sind Bestseller in der arabischen Welt. Ich habe beide Titel in Ägypten beim Kioskhändler gesehen.

Was können wir denn tun, um der Bedrohung und speziell dem Terror die Stirn zu bieten?
Lustiger: Ich fand die Reaktion von Angela Merkel nach den letzten Anschlägen großartig. Hollande hat nach den Terroranschlägen gesagt: "Wir sind im Krieg." Und Merkel sagt: "Wir brauchen einen offenen Blick auf die Welt und Selbstvertrauen in uns und unser Land." Ja, den offenen Blick darf man sich nicht nehmen lassen. Dazu gehören freilich Mut und Vertrauen in die eigenen Institutionen.

Und wie ist es mit den auch von Ihnen immer wieder thematisierten gesellschaftlichen Missständen. Muss da nicht etwas getan werden?
Lustiger: Radikalisierte junge Männer und Frauen, die nichts ersehnen als den Tod und so viele Menschen wie möglich dabei mitzureißen, die kann man nicht erziehen. Solche Menschen muss man im Rahmen der Terrorabwehr frühzeitig erkennen und verhaften. Keiner wird allerdings zum Dschihadisten geboren. Wenn man sich die Biografien der jungen Menschen anschaut, die sich so indoktrinieren und radikalisieren lassen, sieht man oft die gleichen Profile. Und da kann man in der Tat frühzeitig etwas tun. Man kann etwas gegen Staaten unternehmen, die ungestraft ihren Missbrauch betreiben und dieses Gedankengut liefern. Man kann etwas gegen Terrorstaaten tun. Man kann und sollte auch etwas gegen Vereine, Organisationen in unserer Mitte tun, die unsere Grundwerte verteufeln. In diesem Sinne hat das niedersächsische Innenministerium den Verein "Deutschsprachiger Islamkreis Hildesheim" verboten. Dem Verein wurde unter anderem vorgeworfen, Muslime zur Teilnahme am Dschihad in Kampfgebieten aufzufordern. Ich frage mich oft, was machen Menschen bei uns, die mit unserer Art zu leben nichts anfangen können? Aber das ist ein anderes Thema. Viele der Attentäter in Frankreich kommen aus den sozialen Brennpunkten, aus zerrütteten Familienverhältnissen, waren zuvor Kleinkriminelle, Schulabgänger. Man sollte etwas gegen die Jugendarbeitslosigkeit tun, gegen die soziale Misere in den sozialen Brennpunkten. Es gibt viele Ansätze. Ganz wichtig sind Aufklärung und Bildungsarbeit. Eva-Maria ReutherExtra: ZUR PERSON


Gila Lustiger wurde als Tochter des Historikers Arno Lustiger 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte in Jerusalem Germanistik und Komparatistik. Seit 1984 lebt sie mit ihrer Familie in Paris.
Mit der Waffe des Wortes (ID: )

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort