Literatur Interview mit Autorin Ute Bales: „Nicht-Denken ist das Unheil der Welt“

Borler/Freiburg · Die Eifeler Schriftstellerin legt mit „Bitten der Vögel im Winter“ einen mutigen Tatsachenroman vor. Darin beschreibt sie den Völkermord der Nazis an 500 000 europäischen Sinti und Roma aus Sicht der NS-Täterin Eva Justin. Ein Gespräch über Risiken und Chancen des künstlerischen Unterfangens.

 Die Autorin Ute Bales.

Die Autorin Ute Bales.

Foto: Rhein-Mosel-Verlag/Michael Spiegelhalter

  Die dunkle Seite des Menschen macht die aus der Vulkaneifel stammende Autorin Ute Bales zum Gegenstand ihres neuen Tatsachenromans „Bitten der Vögel im Winter“. Es geht darin um  die Nazi-„Rassenforscherin“ Eva Justin (1909-1966). Im Auftrag ihres Vorgesetzten, des Leiters der 1936 gegründeten „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, Dr. Robert Ritter (1901-1951), zu dem sie auch privat in einem Abhängigkeitsverhältnis stand, untersuchte Eva Justin Sinti und Roma und verfasste darüber scheinwissenschaftliche Arbeiten. Diese dienten dem NS-Regime als Grundlage für die Inhaftierung, Zwangssterilisierung und Ermordung von mehr als 500 000 sogenannten „Zigeunern“ europaweit. Dieser Genozid ist in Deutschland lange totgeschwiegen und den Opfern eine Entschädigung vorenthalten worden.  Die Täter gingen straffrei aus. Die Autorin Ute Bales (siehe Zur Person) gesellt sich jetzt zu den wenigen, die an dieses Verbrechen erinnern. Für das Buch ist sie mit dem Martha-Saalfeld-Förderpreis des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet worden (der TV berichtete). Das Wagnis des Romans besteht darin, dass Ute Bales  überwiegend aus der Perspektive der Täterin Eva Justin schreibt (siehe Buchbesprechung).

Warum haben Sie das Leben einer Nazi-Verbrecherin, die auf keinerlei Sympathie stoßen kann, als Vorlage für Ihren Roman gewählt und warum schreiben Sie überwiegend aus der Perspektive der Täterin und nur in wenigen Passagen aus der ihrer Opfer?

UTE BALES  Es war der Versuch, etwas zu begreifen. Im Fall der Eva Justin wollte ich wissen, wie man verstrickt wird in solche Taten, wie man sie befürworten und unterstützen kann. Aus der Perspektive einer NS-Täterin zu schreiben ist natürlich mit Risiken und Fallstricken verbunden. Meine Absicht war es, viel Emotionales zu zeigen und zwar auf beiden Seiten, wenn auch die Opferseite kürzer ausfiel. Eva Justin hat nicht reflektiert und nicht gedacht. Mit grausamen Folgen. Deshalb liegt der Schwerpunkt des Erzählens auf ihr. Außerdem wollte ich nicht länger Stereotypen schaffen und Klischees stärken. Wir müssen endlich aufhören, uns immer wieder zu versichern, dass keiner die Nazis gewählt hat, dass alle dagegen waren, dass vor allem die eigene Familie sauber war. Das ist falsch. Wenn man verstehen will, wie so ein System funktionieren und so viele Anhänger gewinnen konnte – Verstehen und Verständnis sind zweierlei Dinge –, dann muss man sich hineindenken. Für Eva Justin war die Allianz mit den Nazis eine Option. Sie hat sich nicht bewusst auf die Seite der Bösen gestellt. Wie viele andere hat auch sie geglaubt, die Welt verbessern zu können.

Die Welt verbessern, indem man andere quält und in den Tod schickt? Gehört nicht mehr als bloße Unreflektiertheit, sondern Rohheit dazu, die hier für die meisten Menschen bestehende Hemmschwelle zu überschreiten?

BALES Das Töten von Menschen haben sie in Kauf genommen. Sie waren sicher, die Welt durch ihre Arbeit zu verbessern, auch indem sie andere in den Tod schickten. Millionen von Deutschen waren der Ansicht, die Welt besser zu machen, indem sie Minderheiten ausgrenzten, denunzierten und Deportationen unterstützten.  Leider war es nur eine Minderheit, die das angezweifelt hat. Justin und Ritter waren keine Psychopathen.  Das ist es ja eben, was die Leute nicht hören wollen. Sie hätten gerne Monster. Aber das kann ich nicht liefern. Justin und Ritter waren allerdings obrigkeitshöriger als wir, anders erzogen, hatten andere Werte. Das ist keine Entschuldigung. Vor allem ist nicht zu entschuldigen, dass sie nicht gedacht haben. Das Nicht-Denken ist es, was sie zu Tätern gemacht hat. Nicht-Denken ist das Unheil der Welt. Aus falschem Denken wird oft verhängnisvolles Handeln. Hannah Arendt, die in den 1960er Jahren über den Eichmann-Prozess in Jerusalem geschrieben hat, hat Eichmann als ganz normalen Mann dargestellt. Eichmann hatte sich herausgeredet: Es seien Befehle gewesen, er habe dem Führer Gehorsam geschworen und so weiter. Da saß also auch kein Monster auf der Bank, auch kein Psychopath. Justin und  Ritter waren in der NS-Zeit keine Verbrecher, sondern hochangesehene Leute. Sie haben bis zum Schluss nicht verstanden, was sie falsch gemacht haben sollen.

Eva Justin und Robert Ritter erhalten durch die von Ihnen gewählte Erzählperspektive ein menschliches Gesicht. Haben Sie keine Bedenken, dass die private Sicht auf die Täter in den Augen mancher Leser deren Schuld relativieren könnte?

BALES Justin und Ritter hatten menschliche Gesichter, die brauchte ich ihnen nicht zu geben. Es waren schließlich ganz normale Menschen. Allerdings lebten sie in einer Zeit beziehungsweise einem System entfesselter totalitärer Macht.  Hinzu kommt, dass ihre Taten durch das Gesetz legitimiert waren. Dennoch hätten sie sich anders entscheiden können. Beide hatten einen freien Willen. Ungeachtet ihrer persönlichen Umstände bleiben sie Täter, die die Vernichtung von Tausenden Roma und Sinti mitzuverantworten haben. Ihre überstrenge Erziehung und die Obrigkeitshörigkeit – bei Justin kommt die sexuelle Abhängigkeit von Ritter hinzu, sie wollte ihm alles recht machen, Teil sein einer großen Bewegung und zur Entstehung einer Elite-Rasse weißer Arier beitragen – alles das sind lediglich Erklärungen für das Täterprofil, entbinden aber nicht von Verantwortung und Schuld.

Nach Lektüre der brutalen Szenen in den Lagern irritiert die Bezeichnung „ganz normale Menschen“.  Ist Ihr Menschenbild ein negatives?

BALES Nein, mein Menschenbild ist kein negatives. Menschen können Großartiges und Schönes vollbringen. Aber es gibt eben auch eine dunkle Seite, die jeder mit sich trägt. Mich hat diese dunkle Seite interessiert.

Durch die Täterperspektive versetzen Sie den Leser in einen Zustand des schockierten Erbostseins. Die Opferperspektive hingegen würde  Mitleid erzeugen. Wäre dieses nicht das bessere Gefühl, um zu verhindern, dass sich Verbrechen wie die in der NS-Zeit begangenen  wiederholen?

BALES Die Opferperspektive beschert vielleicht das angenehmere Gefühl, mehr auch nicht. Um zu verhindern, dass sich solche Verbrechen wiederholen, müssen wir uns damit so offen wie möglich befassen und alle Seiten zeigen. Dazu gehören Sichtweisen, die abstoßend sind und uns erschrecken. Und wir dürfen nicht aufhören zu erinnern.

Besteht nicht die Gefahr, dass durch die Erzählperspektive über weite Strecken Nazi-Ideologie im Dienste  der Kunst nochmals in die Welt gesetzt wird – ohne  ausreichend relativierende Gegenposition – was  gerade die Falschen zum Lesen animieren könnte, während die anderen sich angewidert abwenden?

BALES Das wird mir vorgeworfen. Aber die Falschen werden es nicht lesen und wenn sich jemand abwenden möchte, soll er es tun. Ich denke, das sind Ausreden. Dahinter steckt die Angst, sich mit der Psyche der Täter zu beschäftigen. Das wird oft schnell abgehandelt, indem man sich die Täter als Monster vorstellt, die nur böse  sind. „Opa war kein Nazi“, weil er doch immer lieb zu mir war. Selbst wenn Opa kein Parteimitglied war, kann man absolut ausschließen, dass er keinen Menschen denunziert oder als Soldat in Russland eine Frau vergewaltigt hat? Kein Täter ist ausschließlich böse. Denken Sie bloß mal an die sexuellen Übergriffe von Pfarrern. Natürlich passt meine Beschreibung einer Täterin mit widersprüchlichen Charakterzügen nicht jedem ins Konzept. So träumt man sich gerne als Held und identifiziert sich lieber mit den Opfern.

Der NS-Verbrecher Robert Ritter zitiert in Ihrem Buch unter anderem Immanuel Kant, den großen Philosophen der deutschen Aufklärung,  mit einer  rassistischen Äußerung. Sie machen damit deutlich, dass nicht erst die Nazis den Rassismus  erfunden haben. Aber stößt die Kunst hier nicht an ihre Grenzen, weil sie den Leser ratlos zurücklässt oder Gefahr läuft, die Schuld eines NS-Verbrechers zu relativieren?

BALES Kunst muss an Grenzen stoßen. Literatur muss betroffen machen, sonst kann sie nichts ausrichten. Sie darf auch ratlos machen, denn dann regt sie zum Denken an. Natürlich läuft sie Gefahr, dass sie missverstanden wird. Wenn man davor Angst hat, darf man nicht schreiben. Zwar haben die Nazis Rassismus nicht erfunden, aber auf perfide Weise ausgebaut. Unsere Kultur häuft seit Jahrhunderten rassistische Diskriminierungsmuster an. Das ermöglicht uns, andere zu verachten. Das gilt derzeit wieder ganz besonders für Minderheiten wie Juden, Sinti und Roma.

Mit welchen Emotionen hatten Sie während des Beschreibens des brutalen Vorgehens  in den Lagern zu kämpfen?

BALES   Ich habe das Schreiben mehrfach unterbrechen müssen. Beispielsweise bei der Beschreibung der Sterilisationen von Frauen in einem deutschen Lager in Polen. Das, was ich bei Recherchen herausfand, war teilweise nicht erträglich, aber ich habe irgendwie weitergemacht, weil ich das Gefühl hatte, dieses Buch schreiben zu müssen. Einer musste es schreiben, schon der vielen Opfer wegen, die keine Stimme haben.

Was denken Sie: Warum werden Menschen zu Tätern?

BALES Sind wir denn nicht alle Täter? Natürlich nicht in den Dimensionen der Eva Justin. Aber wir kaufen Smartphones, für deren Herstellung Kinder mit kleinen Händen seltene Erden metertief aus der Erde kratzen. Wir kaufen Fleisch, obwohl wir alle wissen, wie mies die Zustände in den Zuchtbetrieben sind.  Wahrscheinlich müssen auch wir uns irgendwann die Frage gefallen lassen, warum wir nichts getan haben.  Ich bin übrigens gar nicht so sicher, was ich in der Nazi-Zeit getan oder unterlassen hätte. Ob ich den Mut gefunden hätte, diesem perfiden Regime entgegenzutreten oder ob ich nicht auch weggesehen und dadurch zur Täterin geworden wäre. Aus heutiger Sicht ist es einfach zu sagen, man hätte dagegen angekämpft. Täterpotenzial steckt in jedem von uns. Ich bin heilfroh, in einer Zeit leben zu können, die mir keine wirklich tiefgreifenden Gewissensentscheidungen abverlangt.  

DAS INTERVIEW FÜHRTE TV-REDAKTEURIN SABINE GANZ

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