Serie: Jedem ein Zuhause Das Schammatdorf in Trier: Eine Dorfidylle mitten in der Großstadt

Trier · Das Wohnprojekt Schammatdorf im Süden Triers hat bundesweit Schule gemacht. Tür an Tür leben hier Junge und Alte, Hartz-IV-Empfänger und Besserverdienende, Menschen mit und Menschen ohne Handicap. Die Nachfrage übersteigt das Angebot deutlich.

 Die „Kleine Bürgermeisterin“ Anja Loch (links) im Gespräch mit der ältesten Bewohnerin des Schammatdorfes, Marga Boesen (90), und Vorstandsmitglied, Norbert Hellenthal.

Die „Kleine Bürgermeisterin“ Anja Loch (links) im Gespräch mit der ältesten Bewohnerin des Schammatdorfes, Marga Boesen (90), und Vorstandsmitglied, Norbert Hellenthal.

Foto: Friedemann Vetter

Was mag das für ein Dorf sein, in dem Vereinsamung oder Ausgrenzung keine Themen sind und Menschen mit Handicap willkommen? Wie muss ein Dorf organisiert sein, in dem viele Menschen Verantwortung übernehmen und jenen helfen, die sich selbst nicht helfen können?

Das Schammatdorf im Süden von Trier  ist ein Ort, den sich mancher erträumt, und den wenige Glückliche ihr Zuhause nennen dürfen.  Hier leben heute 250 Menschen in 140 Wohnungen, wovon 40 rollstuhlgerecht und 21 barrierearm sind. Sie kommen aus unterschiedlichen gesellschaftichen Schichten. Der Hartz-IV-Empfänger fühlt sich  im Schammatdorf genauso wohl wie die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer.

Familien genießen die Gemeinschaft ebenso wie  Alleinerziehende,  Rollstuhlfahrer und rüstige Rentner. Im kompletten Wohnbereich gilt Tempo 20, im Zentrum bietet ein Gemeinschaftshaus Platz für eine Kneipe, einen Kiosk, Bastelgruppen, gemeinsame Mittagessen, Konzerte oder Ausstellungen.

„Wir begegnen uns alle auf Augenhöhe“, sagt Norbert Hellenthal, Vorsitzender des Vereins Schammatdorf. „Wenn Malu hier ist, ist sie nicht Ministerpräsidentin, sondern eine normale Nachbarin. Das schätzt sie, und die anderen tun es  auch. Die meisten sind hier per du wie in einem klassischen Dorf.“

Kein Wunder, dass die sogenannte Kleine Bürgermeisterin Anja Loch jährlich etwa 80 bis 100 Bewerbungen erhält. Doch im Schnitt werden lediglich fünf bis maximal sieben Wohnungen frei, überwiegend im Segment „ein bis zwei Zimmer, Küche, Bad“. Zu wenig. Die Diplom-Pädagogin, deren Stelle von der Abtei St. Matthias, der Stadt Trier und dem Land Rheinland-Pfalz finanziert wird, macht ihren Job als Kleine Bürgermeisterin jetzt seit  vier Jahren. Nach welchen Kriterien sucht sie aus? „Wichtig ist, dass die Balance stimmt. Das Konzept ist ja integrativ. Wenn eine Wohnung frei wird, muss ich das beachten. Auch die Alterstruktur spielt eine Rolle bei der Auswahl. Mittlerweile bekommen wir Bewerbungen aus dem gesamten Bundesgebiet.“

 Im Schammatdorf im Süden von Trier leben 250 Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, mit und ohne Behinderung.

Im Schammatdorf im Süden von Trier leben 250 Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, mit und ohne Behinderung.

Foto: Portaflug

Selbst wer vermeintlich gute Chancen hat, hängt nach dem persönlichen Vorstellungsgespräch bei Loch erst einmal in der Warteschleife. „Es kann passieren, dass man sich bis zu vier Jahren gedulden muss. Manchmal  geht man auch leer aus“, sagt Anja Loch. Wird eine Wohnung frei, macht sich die Kleine Bürgermeisterin auf den Weg zum sogenannten Wohnhof, von denen es insgesamt zehn im Schammatdorf gibt (ein weiterer Hof wurde 1994 im Bereich der Altenwohnungen neu gebaut). Ein Wohnhof besteht aus mehreren zweigeschossigen Häusern mit insgesamt zwölf Wohnungen. In der Hofmitte lädt ein begrünter Rasen mit Bänken zur Kommunikation ein.

Im demokratisch organisierten Schammatdorf haben die Bewohner Mitspracherecht. Welcher Mensch zu ihnen passen könnte, will Anja Loch wissen, ohne Namen zu nennen, und gleicht die Wünsche mit ihrer Bewerberliste ab. Anschließend geht sie zu Bruder Eucharius von der Abtei St. Matthias, dem Personalverantwortlichen des Schammatdorfes und Vorgesetzten von Anja Loch. „Wir gleichen dann die Liste und die Vorstellungen des Hofes ab und suchen jemanden aus. Der wird dann zu einem Abteigespräch eingeladen. Da sind dann Bruder Eucharius, der Hofsprecher, der Bewerber und ich dabei“, erzählt die Kleine Bürgermeisterin. Läuft alles glatt, schlägt Bruder Eucharius der Wohnungsbaugesellschaft gbt (siehe Info)  den Mieter vor, der dann einen Vertrag erhält.

In den vergangenen zwei Jahren hat sich dabei allerdings eine Hürde aufgetan. Die Wohnungen sind in den 1970er Jahren mit Geld aus dem sozialen Wohnungsbau gefördert worden, das Mietniveau ist also recht niedrig. Normalerweise braucht ein neuer Mieter einen Wohnberechtigungsschein (WBS). „Doch um die Vielfalt zu erhalten und eine Ghettobildung zu verhindern, haben wir  Wohnungen stets auch an Besserverdienende vergeben. Die zahlen dann mehr“, sagt Anja Loch. Die Ausnahmen von der Regel muss Bruder Eucharius bei der Stadt beantragen, was zunehmend schwieriger werde.

Moment. Wie passt denn da Ministerpräsidentin Malu Dreyer rein? „Ihr Mann Klaus Jensen lebte mit seiner Familie und seiner ersten Frau schon lange Zeit im Schammatdorf“, sagt Loch.  Als er 2004 Malu Dreyer heiratete, zog die damalige Ministerin zu ihm. Überhaupt seien einige Bewohner ins Dorf gekommen, als sie noch keinen höheren Lebensstatus hatten.

Gravierende Veränderungen standen erstmals 2004/2005 ins Haus. „Einige wollten ihre Häuser kaufen“, erinnert sich Hellenthal. „Also beschloss man, 30 Wohnungen zu verkaufen. Zehn Jahre später kamen noch mal zehn weitere Wohnungen dazu. Das war aber nur für diejenigen möglich, die ohnehin schon hier wohnten. Jetzt ist Schluss.“

Als eines der ältesten integrativen Wohnprojekte Deutschlands zieht das Schammatdorf regelmäßig Besucher aus anderen Kommunen, Städten und Bundesländern an. 15 bis 20 Führungen seien es pro Jahr, resümiert Anja Loch. Den Slogan „Nebeneinander wohnen, Miteinander leben, Füreinander da sein“ hat Marga Boesen verinnerlicht, mit 90 Jahren die älteste Bewohnerin. Sie liebt die Nähe zur Stadt und zur Abtei. „Wenn ich will, habe ich Anschluss. Jahrelang habe ich meinem Nachbarn die Treppe geputzt und bin mit meiner Nachbarin einkaufen gegangen. So wie ich hier lebe, bin ich groß geworden. Mit Klatsch und Tratsch wie in einem Dorf.“

Weitere Informationen unter www.schammatdorf.de

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